Sinnvoll spielen: Wie Sensorische Integrationstherapie Ihrem Kind helfen kann
Was bedeutet Sensorische Integration?
Sensorische Integration bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, Informationen aus den verschiedenen Sinnessystemen geordnet zu verarbeiten. Von welchen Sinnessystemen sprechen wir hier? Als Erwachsene fallen uns wahrscheinlich als erstes Sehen und Hören ein, doch für die kindliche Entwicklung sind die sogenannten Nahsinne – der Berührungs-, der Gleichgewichts- und der versteckte „sechste Sinn“, der Kraft- und Bewegungssinn oder Muskelsinn – viel wichtiger. Durch diese Sinnesinformationen lernen Kinder ihren Körper kennen und sammeln Erfahrungen, wie sie ihn einsetzen können, um Effekte in der Umwelt zu erzielen.
- Beispiel: Das Baby stößt zunächst eher zufällig gegen das Mobile.
Der Effekt der schaukelnden Figuren gefällt ihm. Es will ihn noch einmal erzeugen. Es muss jetzt seinen Muskelsinn nutzen, um die gezielte Bewegung nochmals auszuführen. Das Feedback aus dem Berührungs-, Seh- und Hörsinn sagt ihm, ob es seine Sache gut gemacht hat. Wenn nicht, dann zeigen Kleinkinder eine unglaubliche Ausdauer, es immer und immer wieder zu probieren.
Diese Sinnesinformationen ermöglichen es einem Kind, seine Umwelt zu verstehen, sich darin zurechtzufinden und sinnvoll und effektiv darin zu handeln. Die Grundlagen dafür beginnen sich schon im Mutterleib zu entwickeln: durch Bewegung und Anregung des Gleichgewichtssinnes, durch Spürerfahrungen, wenn das Kind den Daumen zum Mund bringt, durch Tritte gegen die Uteruswand.
Ein gut integriertes Gehirn ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kind seine Emotionen regulieren kann, seine motorischen Fähigkeiten entwickeln und selbstständig werden kann, und dass es den Ausdruck anderer Menschen interpretieren kann und genug Selbstvertrauen entwickelt, um mit ihnen soziale Interaktionen einzugehen.
Funktioniert die Verarbeitung der Sinnesreize aber nicht optimal, kann dies zu Schwierigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen führen. Das Kind kann tollpatschig und ungeschickt sein, nicht essen können ohne zu patzen, unabsichtlich sein Spielzeug kaputt machen, sich alleine nicht sinnvoll beschäftigen können, verspätet oder undeutlich sprechen, laut, wild, impulsiv und waghalsig sein oder unsicher und beobachtend. Es vermeidet wahrscheinlich altersentsprechende Anforderungen und wird leicht zum Außenseiter oder Gruppenkasperl. Stillsitzen fällt schwer und trotz guter Intelligenz kann es Probleme beim Lernen und in der Aufmerksamkeit geben.
Wenn diese Schwierigkeiten häufig vorkommen und über das übliche Ausmaß hinausgehen, sodass bei Kind oder Eltern ein Leidensdruck entsteht, sollte das Kind einer Ergotherapeutin zur Abklärung vorgestellt werden. Nicht jedes Kind braucht Therapie - oft helfen Anregungen für den Alltag, die das Zusammenleben wieder leichter machen.
Was erwartet Eltern und Kinder bei SI?
Spätestens wenn es in der Schule Probleme gibt, werden Sie als Eltern sich um professionelle Hilfe umschauen. Und wahrscheinlich wird bei Ihren Recherchen bald der Begriff Sensorische Integrationstherapie auftauchen.
SI-Therapie wird von Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten mit Zusatzqualifikation angeboten. Die Theorie der Sensorischen Integration wurde nämlich von einer kalifornischen Ergotherapeutin, Dr. Jean Ayres, entwickelt und heißt deshalb heute offiziell „Ayres Sensory Integration“ (ASI®).
Die Behandlung zielt darauf ab, das Gehirn geordneter arbeiten zu lassen und die Sinnesverarbeitung des Kindes zu verbessern. Kernmerkmale der Ergotherapie nach dem ASI-Ansatz sind dabei die spielerische Atmosphäre, die partnerschaftliche Beziehung zwischen Therapeutin und Kind, der kindgesteuerte Ablauf, die vielen Erfolgserlebnisse, die das Kind in einer Therapiestunde erlebt, und natürlich, dass abgestimmt auf die Problematik des Kindes verstärkte Gleichgewichts-, Kraft- oder Berührungserfahrungen eingesetzt werden.
Entwicklungsverzögerungen: Wenn Ihr Kind motorische, sprachliche oder soziale Entwicklungsverzögerungen aufweist, kann SI-Therapie helfen, die Grundlagen für diese Fähigkeiten zu entwickeln, sodass sie darauf aufbauen können.
Ungeschicklichkeit, graphomotorische Defizite, Schreibstörungen: 80% der entwicklungsbedingten Koordinationsstörungen liegen sensorische Integrationsstörungen zugrunde. Erst wenn das Kind genauer spüren kann, was es zwischen den Fingern hält, wird es dasjenige auch geschickt benutzen können.
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS): Etwa der Hälfte der Aufmerksamkeitsstörungen liegen sensorische Integrationsstörungen zugrunde. Durch eine ergotherapeutische Befundung können die Eltern und Lehrer:innen diese Kinder besser verstehen und ihren Bedürfnissen entgegenkommen. Kinder mit diesen Formen von ADS oder ADHS profitieren von ASI-Therapie, weil sie zielgerichteter, konzentrierter, leistungsbereiter und ausdauernder werden und sie bekommen wieder mehr Freude sich anzustrengen und zu lernen.
Sensorische Empfindlichkeiten: Kinder, die überempfindlich auf bestimmte Sinnesreize reagieren, profitieren besonders von ASI-Therapie, weil ihre Umwelt dabei aufgeklärt wird, wie unangenehm ihr Alltag ist und Eltern sowie auch Pädagoginnen und Pädagogen das Verhalten des Kindes jetzt neu interpretieren und ihm helfen können, sich in seiner Haut wohl zu fühlen.
Autismus-Spektrum-Störung: Kinder mit Autismus haben immer Schwierigkeiten in der Verarbeitung von sensorischen Reizen. Die SI-Therapie kann ihnen helfen, sensorische Empfindlichkeiten zu reduzieren, Aufmerksamkeit gegenüber der Umwelt zu entwickeln, zweckmäßig zu handeln, und mit den Menschen und Dingen in ihrer Umgebung zu interagieren.
Wo kann man in Österreich passende Anbieter finden?
In Österreich gibt es zahlreiche Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten mit dem Zertifikat als ASI®Practitioner und Einrichtungen, die sensorische Integrationstherapie anbieten. Hier sind einige Möglichkeiten, wie Sie passende Anbieter finden können:
Entwicklungsdiagnostik- oder Therapiezentren: in diesen Zentren, die z.B. von der Gemeinde oder von Vereinen betrieben werden, arbeiten immer Ergotherapeutinnen und Ergotherpeuten, von denen einige auch auf SI spezialisiert sind. In Wien sind diese Zentren, in denen die Therapie auch kostenlos für die Familien sind, die ZEFs und die VKKJ Ambulatorien. Leider sind die Wartezeiten extrem lang.
Ergotherapeutische Kinderpraxen: viele Ergotherapiepraxen haben sich auf Sensorische Integrationstherapie spezialisiert. Achten Sie darauf, ob die Therapie tatsächlich von einer Ergotherapeutin oder einem Ergotherapeuten mit Zusatzausbildung in Ayres Sensorischer Integration durchgeführt wird! Wo Sie dieses Abzeichen sehen, können Sie sicher sein, dass es sich um eine gut ausgebildete Fachkraft handelt!
Krankenhausambulanzen: in Krankenhäusern wird heutzutage kaum mehr Therapie angeboten, lediglich Befundungen. Zur Behandlung werden Sie nach außen verwiesen.
Wo bekommen Sie Informationen:
- Auf der Webseite der Gesellschaft für Sensorische Integration in Österreich (GSIÖ): Neben der informativen Webseite bietet dieser Verein auch vierteljährlich einen SI-Informationsabend an.
Elterngruppen und Online-Ressourcen: Auf Facebook gibt es Gruppen zum Thema Sensorische Integration und Wahrnehmungsstörungen.
Frühförderstellen: In vielen Gemeinden und Städten gibt es Frühförderstellen, die entweder selbst SI-Therapie anbieten oder Sie an eine qualifizierte Therapeut:in vermitteln können.
Kinderärztinnen und Kinderärzte: Ihr Kinderarzt bzw. Ihre Kinderärztin sollte qualifizierte Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer Umgebung kennen.
Sensorische Integrationstherapie kann einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung und zum Wohlbefinden Ihres Kindes und Ihrer Familie leisten. Wenn Ihnen ungewöhnliche Muster der sensorischen Verarbeitung Ihres Kindes auffallen, zögern Sie nicht zu lange. Je früher die SI-Probleme erkannt werden, desto wirksamer ist die Therapie und wir ersparen dem Kind viele Misserfolge und Missverständnisse. Der SI-Therapieansatz hilft Kindern auf spielerische und motivierende Weise, ihre Hirnfunktion zu verbessern und ihr volles Potenzial zu entfalten.
Sollte die Befunderhebung zeigen, dass keine SI-Störung vorliegt, braucht Ihr Kind natürlich auch keine SI-Therapie.